Weisheiten der Woche



"Niemand hat den geringsten Schimmer"
von Malcom Gladwell 22. 1. 2007

Die 200-Millionen-Dollar-Formel
Lässt sich der Erfolg an der Kinokasse programmieren? Ein pensionierter Rechtsanwalt aus Washington und die Suche nach der Formel für den perfekten Film.

Neulich sass Dick Copaken im «Daniel», einem dieser exklusiven Restaurants an Manhattans Upper East Side, wo mit gedämpfter Stimme gesprochen wird und die Kellner Gespenstern gleich von Tisch zu Tisch gleiten. Er trug ein gestärktes Hemd mit Button- down-Kragen und einen blauen Blazer. Copaken war viele Jahre lang Teilhaber einer Kanzlei in Washington DC gewesen, und er hat nach wie vor die Würde eines Rechtsanwalts.

Er erzählt gern Geschichten. Doch ist er strenggenommen kein Geschichtenerzähler, denn diese wissen, was man weglassen kann, und Copaken lässt nie etwas weg: Jedes Detail wird angeführt. Dies gilt ganz besonders, wenn Copaken über Dinge spricht, die ihm am Herzen liegen, ganz besonders das Kino. Dick Copaken liebt das Kino über alles. In den letzten fünfzig Jahren hat er wöchentlich zwei bis drei Filme gesehen, und im «Daniel» sprach er über einen Film, der ihn so tief berührt hatte wie kaum noch einer.
«Kein Mensch hat von ihm gehört», sagte er, als sei dies eine kleinere Tragödie: «Er heisst ‹Dear Frankie›. Ich hab ihn mir auf einem Atlantikflug angeschaut. Ich versprach mir gar nichts davon, doch er hat mich umgehauen.» Emily Mortimer spielt in diesem schottischen Film eine alleinerziehende Mutter, die ihrem neunjährigen tauben Sohn Briefe schreibt, die angeblich von seinem zur See fahrenden Vater stammen. Als ein Schiff einläuft, das der Sohn für dasjenige seines Vaters hält, muss die Mutter einen Fremden dafür anheuern, den Vater zu spielen. Zum Schluss stellt sich heraus, dass der Bub den Trick seiner Mutter längst durchschaut hat.

«Ich war in Tränen», erzählte Copaken. Copaken schüttelte den Kopf und schaute weg. Seine Wangen waren gerötet. Seine Stimme plötzlich belegt. Da sass dieser zugeknöpfte Rechtsverdreher in einem Restaurant, wo Gefühlsäusserungen praktisch per Verbotsschild untersagt waren, und weinte schon wieder. «Das macht mich völlig fertig», sagte er mit noch immer abgewandtem Gesicht: «Dass der die ganze Zeit gewusst hat, was seine Mutter macht.» Er hielt inne, um sich zusammenzureissen. «Ich kann die verdammte Geschichte noch nicht einmal erzählen, ohne von Gefühlen übermannt zu werden.»

Er versuchte zu erklären, wieso er weinte. Da war der kleine Bub. Der war so alt wie Copakens Enkel Jacob. Vielleicht hatte es damit zu tun. Vielleicht reagierte er auch darauf, dass da ein Elternteil fehlte. Seine eigenen Eltern, Albert und Silvia, hatten in Kansas City eine bescheidene Anwaltspraxis gehabt, die geschlossen wurde, wenn Dick oder sein Bruder Schülertheater spielten. In der Welt der Copakens galt als ehernes Gesetz, dass die Eltern anwesend zu sein hatten.

Aber all das genügte nicht. Denn auch noch zum kleinsten erzählerischen Details eines Films gibt es komplizierte emotionelle Assoziationen, und deren subtile Kombination ist schliesslich der Grund, weshalb wir lachen oder schluchzen, wenn wir an einen bestimmten Film erinnert werden. Nun ist die optimale Kombination all dieser Elemente natürlich ein Geheimnis. Deshalb ist es so schwierig, einen wirklich unvergesslichen Film zu drehen, und deshalb belohnen wir die paar wenigen so reich, die eben dies können.
Keinen Schimmer

Der berühmteste Satz über Hollywood stammt vom Drehbuchautor William Goldman. «Niemand hat den geringsten Schimmer», schrieb er 1983 in «Adventures in the Screentrade». «Kein einziger Mensch im ganzen Filmgeschäft weiss mit Sicherheit, was funktioniert. Jedes Mal wird drauflos geraten.» Zu den Filmen mit den grössten Bruttoeinnahmen aller Zeiten gehört «Raiders of the Lost Ark»: Er sei allen Hollywood-Studios angeboten worden, schreibt Goldman, und alle ausser Paramount hätten ihn abgelehnt. «Warum sagte Paramount ja? Weil niemand den geringsten Schimmer hat. Und warum sagten alle anderen Studios Nein? Weil niemand den geringsten Schimmer hat. Und warum hat Universal, das mächtigste aller Studios, «Star Wars» abgelehnt? Weil niemand, absolut niemand, weder heute noch sonst je, den geringsten Schimmer hat, was an der Kasse Erfolg haben wird und was nicht.»
Was Goldman sagte, ist eine Variante von etwas, was schon seit langem zum Thema Kunst behauptet wird: Es gibt keine Regeln für Kunst, nur die unendliche Vielfalt subjektiver Erfahrungen. «Schönheit ist keine Eigenschaft der Dinge selbst», schrieb im 18. Jahrhundert der schottische Philosoph David Hume: «Sie existiert allein im Geist, der sie betrachtet; und jeder Geist nimmt eine andere Schönheit wahr.» Hume hätte auch sagen können, niemand habe den geringsten Schimmer.

Prinzipien der Schönheit
Doch Hume hatte einen ebenfalls schottischen Gegenspieler, Lord Kamen, und dieser war überzeugt, Eigenschaften wie Schönheit und Grossartigkeit liessen sich zurückführen auf ein rationales System von Regeln und Vorschriften. Er entwickelte Prinzipien, zum Beispiel, dass eine Frau dann am anziehendsten sei, wenn sie in Not sei. Kamen glaubte tatsächlich, die Überlegenheit von Vergils Hexametern gegenüber denjenigen von Horaz lasse sich mit euklidischer Präzision demonstrieren; und es scheint, als habe es zu jedem Hume immer einen Kamen gegeben, der behauptete, wenn niemand den geringsten Schimmer habe, dann liege das bloss daran, dass niemand gründlich genug suche. Und der pensionierte Rechtsanwalt Dick Copaken hat sich vor ein paar Jahren entschlossen, gründlich genug zu suchen, zumindest was die Filmkunst betrifft. So gründlich wie noch niemand zuvor.

Dick Copaken hat einen Freund namens Nick Meaney. Sie haben einander vor Jahren anlässlich eines Gerichtsfalls kennengelernt. Meaney kommt aus dem Risk-Management, und seit Jahren hat er die Prinzipien dieser Welt aufs Filmgeschäft übertragen wollen. Als 2003 die beiden einmal in England unterwegs waren, erzählte Meaney Copaken von einem Freund aus Universitätszeiten. Der Freund und sein Geschäftspartner studierten populäre Formen des Erzählens. Seit einiger Zeit waren sie am Entwickeln eines Systems zur Einschätzung des kommerziellen Potenzials von Geschichten. Das System war ausserordentlich elaboriert, wurde laufend verfeinert, und vor allem war es streng geheim. Öffentlich sollten Copaken und Meaney von den beiden Herren nur als «Mr Pink» und «Mr Brown» sprechen in Anspielung auf Namen aus Quentin Tarantinos «Reservoir Dogs».

«Dieser Typ hatte eine grosse Wand, und an die klebte er kleine Post-its zu allem, was man sich vorstellen kann», sagte Copaken. «Also solche Dinge: Der Star trägt ein blaues Hemd. Der Star macht seinen Hosenschlitz nicht zu. Es regnet häufig. Die Hauptdarstellerin fährt ein altes Auto und isst gerne Sushi. Was auch immer. Er klebte all diese Faktoren da hin, dann begann er, sie zu verschieben, je nachdem ob ein Drehbuch funktionierte oder nicht, dann gruppierte er sie, und daraus entwickelte sich ein analytisches System.»
Copaken und Meaney waren fasziniert. Sie wollten aus diesem System unbedingt etwas machen. Sie zogen noch einen ehemaligen Kollegen namens Sean Verity hinzu und schlossen einen Vertrag mit Mr Brown und Mr Pink. Sie nannten ihre Firma Epagogix in Anspielung auf Aristoteles und fingen an mit einem Übungsset von Drehbüchern, die Mr Pink und Mr Brown bewertet hatten. Die Bewertungen davon sowie die US-Bruttoeinnahmen der nach diesen Drehbüchern gedrehten Filme wurden in ein neurales Netzwerk gespeist, das ein Meaney bekannter Computerwissenschafter gebaut hatte. «Seinen Namen darf ich Ihnen nicht verraten», sagte Meaney, «doch er ist so durch und durch englisch wie Tweed.» Mr Tweed versuchte also, unter Verwendung von Mr Pinks und Mr Browns Kategorien und Bewertungen die Einnahmen jedes Films vorauszusagen.

Nach ein paar Monaten der Optimierung spuckte der Computer eine Formel aus. Sie basiert auf Tausenden von Faktoren, wie zum Beispiel einer moralischen Krise des Helden im ersten Akt oder der Haarfarbe der Heldin. Diese Formel, so die Theorie, kann nun auf alle Drehbücher angewandt werden. Sollten Sie für 75 Millionen Dollar einen Film mit Bruce Willis und Colin Farrell als Kumpeln planen, der in Los Angeles spielt, verspricht Ihnen Epagogix sagen zu können, wie viel die kombinierten Elemente dieses bestimmten Drehbuchs an den Kinokassen einbringen werden.
Im Sommer 2003 liess Copaken Mr Tweed, Mr Pink und Mr Brown die Pilotsendungen von 16 europäischen Fernsehserien durch den Computer jagen, um so Voraussagen zu machen über die möglichen Zuschauerzahlen jeder Serie. «Ich sagte: Steck das in eine Schublade. Wenn die Serien abgespielt sind, komme ich wieder, und dann schauen wir, wie wir dastehen», sagte Copaken. Im Januar 2004 verglich Copaken die Ergebnisse. In sechs Fällen hatte Epagogix die Anzahl Zuschauer auf 0,6 Promille genau vorausgesagt. In 13 der 16 Fälle auf mindestens 2 Prozent genau.
Nur 1,2 Millionen daneben

Daraufhin nahm Copaken mit einem Hollywoodstudio Kontakt auf. Man gab ihm neun noch nicht gestartete Filme zu analysieren. Bei sechs, darunter zwei der teuersten Produktionen des Studios, konnte Epagogix ziemlich genau vorhersagen, wie viel Geld der Film bringen werde. Bei einer der Grossproduktionen lag die Epagogix- Schätzung nur 1,2 Millionen neben den tatsächlichen Einnahmen. «Das war schockierend», sagte ein leitender Angestellter des Studios, «mich hat beeindruckt, was sie bei einem Film wichtig finden. Das waren nicht dieselben Dinge, auf die wir normalerweise Wert legen. Ihnen ging es um den Schauplatz, ob das Ganze eine Liebesgeschichte sei und sehr spezifische Eigenschaften des Plots, von denen sie überzeugt waren, die seien für den Ausgang wichtiger als alles andere. Vollkommen wurst war ihnen, ob der Hauptdarsteller Tom Cruise war oder Tom Jones.»

Vor ein paar Monaten erklärte sich Dick Copaken bereit, den Schleier des Nichtwissens, der Epagogix verhüllte, wenigstens partiell zu lüften. Er stellte drei Bedingungen: Das Treffen musste in London stattfinden; Mr Pink und Mr Brown würden weiterhin Mr Pink und Mr Brown genannt. Nach grossem Hin und Her wurde man sich einig. Epagogix würde einen Film aus dem Jahr 2005, «The Interpreter», analysieren. Regie: Sydney Pollack. In den Hauptrollen: Nicole Kidman und Sean Penn. «The Interpreter» hatte eine komplizierte Entstehungsgeschichte: Der Film hatte zahllose Überarbeitungen durchlaufen, und man hatte das Gefühl, er hätte viel mehr einspielen müssen. An Epagogix war es, zu sagen, wie das hätte geschehen sollen.
In der ersten Drehbuchfassung gelingt es der jungen Uno-Dolmetscherin Silvia Broome, einen mörderischen afrikanischen Diktator glauben zu lassen, sie habe ihn vergiftet und gebe ihm das Gegengift nur, wenn er öffentlich gestehe, was er seinen Landsleuten angetan habe. Der Mann gesteht und erfährt, dass das angebliche Gift harmlos war.

Pollack gefiel die Idee einer Uno- Dolmetscherin, die zufällig vom Plan zur Ermordung eines Politikers hört. Doch dass das Publikum so an der Nase herumgeführt würde, hielt er für abschreckend. Er wollte einen kommerzielleren Film machen. Deshalb sollte auch die Beziehung zwischen der Dolmetscherin und einem Sicherheitsbeamten zu einer Liebesgeschichte ausgebaut werden. Die Frage an Epagogix war: Wenn Pollack aus «The Interpreter» einen kommerzielleren Film machen wollte, wie gut war ihm das gelungen? Und hätte er es besser machen können?
Die Sitzung fand an einem runden Tisch im Nebenraum eines Restaurants im Zentrum von London statt. Copaken sass neben Sean Verity, es folgten Meaney, Mr Brown und Mr Pink. Mr Brown war sehr gross und schien einen nordenglischen Akzent zu haben. Mr Pink war schlank und grauhaarig und verströmte Autorität. Er hatte Biochemie studiert. Er meinte, im emotionsgeladenen Hollywood-Geschäft sei eine naturwissenschaftliche Ausbildung recht nützlich. Mr Tweed trat nicht in Erscheinung.

Pink meinte, sie hätten schon Tausende von Filmen analysiert. «Es gibt immer ein Muster», fuhr er fort, «es gibt Geschichten, die funktionieren immer. Wenn wir mit einem neuen Markt zu tun haben - wir sind auf fünfzig Märkten tätig -, fragen die Leute: Was wissen Sie über unseren Markt? Die nehmen an, dass Japan beispielsweise anders ist als England, dass da etwas anders läuft. Aber im Grunde sind die gleich wie wir. Dass die gleichen Dinge so regelmässig wieder auftauchen, das ist das Erstaunliche.»

«Biblische Geschichten sind ein klassischer Fall», warf Mr Brown ein: «Was da erzählt wird und die Botschaft davon, das scheint irgendwie universell zu sein. Bei Mel Gibsons «The Passion» sagen die Leute immer: Wer hätte das voraussagen können? Die Antwort ist: Wir hätten das gekonnt.» Sie hatten sich die verschiedenen Drehbücher zu «The Interpreter» angeschaut. Nachdem die beiden «The Interpreter» bewertet hatten, gaben sie ihre Analysen Mr Tweed, der alles durch den Computer jagte. Dann gab Mr Tweed seine Ergebnisse an Copaken, der sie schriftlich festhielt. Die Epagogix-Berichte werden immer von Copaken verfasst, und sie sind Musterbeispiele juristischer Gründlichkeit. Dieser war 38 Seiten lang.
Als Mr Tweed das Drehbuch durch den Computer laufen liess, schätzte die Maschine das Potenzial des Films auf 69 Millionen Dollar, womit er vier Millionen neben den tatsächlichen Einnahmen lag. Es herrschte jedoch allgemeine Einigkeit, dass Pollack viel mehr hätte herausholen können.
Da war erstens einmal die Sache mit der Uno. «Die hatten die einmalige Gelegenheit, in dem Gebäude zu drehen», sagte Mr Pink: «Doch ich kam aus dem Film mit dem Gefühl, der hätte in jedem beliebigen Bürokasten in Manhattan spielen können. Da wurde eine Gelegenheit verpasst.» «Der Schauplatz ist auch eine Figur», sagte Mr Brown, «in diesem Fall allerdings eine sehr farblose.»

Bei der streng geheimen Epagogix- Formel scheinen Schauplätze eine wichtige Rolle zu spielen. «Es gibt einen grossen Unterschied zwischen Grossstadt und Land», sagte Mr Pink: «Der kann sich ganz gewaltig darauf auswirken, wie viele Zuschauer ein Film anzieht.» Mr Pink und Mr Brown zählten die Filme und Fernsehsendungen auf, in denen ihrer Meinung nach die Wichtigkeit von Schauplätzen richtig genutzt worden war: «Crimson Tide», «Lawrence of Arabia», «Lost», «Survivor», «Castaway» und «Deliverance». Mr Pink meinte: «Uns ist immer schon klar gewesen, dass die einsame Insel eine starke Kulisse ist, doch sie wird nicht oft verwendet. Ein Gefängnis kann ein ähnlich starker Schauplatz sein, weil es so genau definiert ist.»
Und dann gab es noch das Problem, dass in beiden Drehbüchern für den «Interpreter» der Anfang nach Afrika verlegt war - nicht nur nach Afrika, sondern in ein fiktives afrikanisches Land. Das fand das ganze Team abwegig. «Das Publikum ist kleinkariert», sagte Mr Pink: «Wenn Sie sagen: ‹Die Geschichte beginnt in Afrika›, verlieren Sie gleich eine grosse Menge Zuschauer. Die haben ihre Eintrittskarte zwar schon bezahlt. Doch die kommen raus und sagen: Es war okay. Aber es war halt Afrika.»
Ausser Afrika können natürlich auch die falschen Figuren negativ zu Buche schlagen. Einmal lieferte das Team einem Studio eine Drehbuchanalyse, in der praktisch alles, was es vorschlug, mit Hollywood-Massstäben gemessen, klein war. Es wollte, dass die Hauptfigur etwas lebendiger würde. Es wollte, dass die Hauptfigur einen jungen Mitstreiter bekam, die aber das junge Publikum ansprechen sollte. Und es wollte, dass die Stadt, wo der Film sich abspielte, viel präsenter würde.
Der Computer bezifferte den Wert der Veränderung der Hauptfigur mit zusätzlichen 2,46 Millionen Dollar; die Aufwertung des Schauplatzes mit 4,92 Millionen; den jugendlichen Mitstreiter mit 12,3 Millionen; und den Synergiewert von allen drei Veränderungen zusammen mit 24,6 Millionen Dollar. Das hiess rund 25 Millionen Dollar mehr für ein paar Wochen Überarbeitung des Drehbuchs und ein, zwei zusätzliche Drehtage. Mr Tweed machte seine Berechnungen und kam zum Schluss, dass der Film nur 47 Millionen Dollar einspielen würde, wenn die vorgeschlagenen Veränderungen nicht gemacht würden. Sie wurden nicht gemacht. Der Film spielte 50 Millionen Dollar ein.

Auf Politik verzichten
Hätten Pink und Brown beim «Interpreter» freie Hand gehabt, hätten sie auf das ganze politische Zeug verzichtet und einen Film gemacht, der ähnlich wie «The Bodyguard» mit Whitney Houston und Kevin Costner gewesen wäre. «Einen viel romantischeren Film, der sich auf die beiden Figuren konzentriert hätte», sagte Mr Pink: «Da hätte man ganz direkt auf die Emotionen drücken können. Ich will nicht sagen, dass wir so viel wie «Titanic» gemacht hätten, aber 200 Millionen wären drin gewesen.» Copaken wollte mehr Gewalt und die Kombination weisse Frau / schwarzer Sicherheitsbeamter; doch «The Bodyguard» daraus machen wollte er nicht. Schliesslich liebte er Filme wie «Dear Frankie», und der hatte in den USA gerade einmal 1,3 Millionen eingespielt.
Und damit hatte Copaken ein Grundproblem aufgeworfen. Denn befolgte man die Regeln von Epagogix, würde es keine Filme wie «Dear Frankie» mehr geben. Der Computer hatte einen einzigen Herrn, den Markt, und beantwortete eine einzige Frage: Was zieht die Masse an? Die ganz besonderen Vorlieben eines ganz besonderen Kino-Zuschauers spielen in dieser Berechnung keine Rolle. Doch sobald einem einmal ein billiger, unbekannt gebliebener Film so bewegt hatte, dass man nicht einmal die Handlung nacherzählen kann, ohne in Tränen auszubrechen, möchte man nicht mehr nur auf den Markt hören. Das sieht sogar Copaken mittlerweile ein.

Die Formel weiss zweifellos viel über den Massengeschmack. Doch sie machte es nicht einfacher, Filme zu machen. Solange niemand den geringsten Schimmer hatte, konnte man tun, was man wollte. Man konnte einen Film in Afrika anfangen lassen. Man konnte darauf verzichten, die Heldin und den Helden zusammenzubringen, und dies damit begründen, dass man etwas Neues machen wollte. Sowie man jedoch das Gefühl hatte, zumindest einen Schimmer zu haben, musste man sich genau überlegen, wie viel Geld man für welche Vision riskieren will.
Weiss das Epagogix-Team die Antwort auf diese Frage? Natürlich nicht. Die Antwort erforderte Phantasie, und das ist nicht das Ressort von Epagogix. Die Epagogix-Leute sind Techniker mit einem Computer. Als Kamesianer brauchte man bloss Lord Kames zu lesen, um den Unterschied zu begreifen. Der arroganteste Mann der Welt war ein schrecklicher Schriftsteller: schwerfällig und weitschweifig. Er kannte die Regeln der Kunst. Doch deshalb war er noch lange kein Künstler.

«Kein einziger Mensch im Filmgeschäft weiss mit Sicherheit, was funktioniert. Jedes Mal wird geraten.»